Kriegsende (2WK) und Nachkriegszeit - Dorfarchiv-Westkirchen e.V.

Dorfarchiv Westkirchen e.V.
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Berichte nach Zeitzeugenaussagen

 
 
Bombenabwürfe, Tiefflieger
 
(Zeitzeuge S.)
 
In Westkirchen wurden keine Bomben auf bestimmte Ziele abgeworfen. Wenn die Kampfflugzeuge aber von Angriffen zurückkehrten, warfen sie die restlichen Bomben wahllos ab, da sie fürchten mussten, auf dem Rückweg noch beschossen zu werden. Gefährlich waren die Angriffe durch Tiefflieger. Einmal wollte ich mit dem Zug von Warendorf nach Westkirchen fahren. In Warendorf gab es bereits Voralarm, wir sind aber trotzdem losgefahren. Unterwegs wurde der Zug dann beschossen. Er hielt auf freier Strecke an und alle Reisenden warfen sich auf den Boden, ich lag unter den anderen. Wir hörten das Rattern der Bordwaffen über uns. Sobald es nachließ, rannten die ersten Fahrgäste aus dem Zug und warfen sich draußen in Deckung. Dann folgte schon der nächste Anflug, und wieder hörten wir das Rattern. Als ich endlich aus dem Zug kommen konnte, waren schon mehrere Personen getroffen worden. Eine Frau hatte einen Kopfschuss abbekommen und Else Nolle einen Knieschuss.
 
Weiter erzählte Zeitzeuge S.: Als ich mein Praktikum machte, konnte ich auf verschiedenen Wegen zu Fuß dorthin kommen. Einmal war ich unterwegs und befand mich gerade auf offener Strecke, als ein Tiefflieger kam. Ich bin zu einer nahen großen Eiche gerannt und habe versucht, mich hinter dem Stamm zu verstecken. Der Pilot hatte mich aber bereits entdeckt und flog den Baum aus verschiedenen Richtungen an. Also bin ich um die Eiche gekreist und habe versucht, immer den dicken Stamm zwischen mich und das Flugzeug zu bringen. Wenn der Tiefflieger eine größere Kurve fliegen musste und ich außer Reichweite der Bordwaffen war, bin ich schnell zur nächsten Deckung weiter gerannt.
Die Tiefflieger griffen alles an, was sich bewegte, um Unruhe in der Bevölkerung zu machen. Einmal habe ich einen Angriff vom Fenster aus beobachtet. Mein Bruder stand ebenfalls draußen. Der Flieger kreiste um unser Haus. Plötzlich fing er an zu schießen und wir haben uns schnell ins Haus zurückgezogen.
In Ennigerloh am Finkenberg ist ein Flugzeug abgestürzt und ausgebrannt; der helle Feuerschein war auch bei uns zu sehen. Unsere Mutter hatte schreckliche Angst und hat sich zitternd auf den Boden geworfen. Später musste eine der drei Westkirchener Ordensschwestern, die auch in der Krankenpflege in Westkirchen tätig waren, den Leichnam des bei dem Absturz umgekommenen Piloten versorgen.
Während der Heuernte warfen die englischen Flugzeuge oft Brandplättchen ab. (Das waren kleine graue oder schwarze Zelluloidplättchen von etwa 5 x 5 cm Größe. In der Mitte befand sich ein von Gazestoff überzogenes Loch von ca. 1cm Durchmesser, das mit Phosphor gefüllt war. Zum Transport mussten die Plättchen in Wasser liegen, damit sie sich nicht entzündeten. Die englischen Flugzeuge schütteten am Einsatzort die Wasserbehälter mit den Plättchen aus. Wenn das Wasser verdunstet war, fing der Phosphor durch die Einwirkung des Luftsauerstoffs oder der Sonne an zu brennen und konnte die Umgebung – in diesem Fall das trockene Heu – in Brand setzen.) Deshalb mussten wir diese Plättchen immer sofort einsammeln und unschädlich machen.
  
Außerdem warfen die Flugzeuge Streifen aus Silberpapier ab, die den Radar stören sollten. Diese Streifen wurden gesammelt und stellten ein begehrtes Material zur Wiederverwertung dar – eine frühe Art des Recycling. Allgemein wurde in den letzen Kriegsjahren und der Nachkriegszeit kaum etwas weggeworfen. Vieles ließ sich umarbeiten und manche alte Tischdecke oder Gardine feierte ein Comeback als Oberbekleidung. Besonders begehrt und sehr chic waren Blusen aus Fallschirmseide.

 
Kriegsende, Einmarsch der Amerikaner

(Ein von mehreren Zeitzeugen zusammengestellter Bericht)
Am Karsamstag Mittag bekam der Volkssturm Nachricht: „Heute Abend sechs Uhr an der Kirche antreten. Sie werden weggeschickt nach Borgholzhausen, Panzer abschießen.“ Aber um halb sechs war das Antreten nicht mehr notwendig. Da kam der Amerikaner schon von Hoetmar her gefahren mit 30 bis 40 Panzern. Einige Panzer kamen auch oben über den Finkenberg, obwohl es dort zu der Zeit noch keine durchgehend festen Straßen gab. Sie fuhren einfach durch die Feldwege und Wiesen. Zum Glück war um Ostern das Vieh noch nicht draußen. Als die Amerikaner sich Westkirchen näherten, haben Schuhmachermeister Theodor Beste und die Gastwirtin Frau Rottwinkel die weiße Fahne auf den Kirchturm angebracht. Daraufhin näherten sich die Amerikaner dem Ort. Der Ortsgruppenführer hatte die Fahne aber gleich wieder heruntergeholt und mit Waffengewalt dafür gesorgt, dass sie unten blieb. Die Panzer hielten rechts und links am Nienkamp – da war ja damals noch viel Platz – und richteten die Panzer in Schussrichtung auf Westkirchen aus.
 
Inzwischen hatte an der Kirche jemand, ebenfalls mit der Waffe in der Hand, befohlen, die Fahne wieder zu hissen. Und keine Minute zu früh erschien die Fahne wieder oben am Kirchturm, denn wie der amerikanische Kommandant später erzählte, habe er kurz davor gestanden, das Feuer auf Westkirchen zu eröffnen. So aber geschah der Einmarsch friedlich und ohne Blutvergießen.
 
Die Panzer verteilten sich dann an den Ortseingängen, ein Teil fuhr weiter in Richtung Ostenfelde. Danach war Ruhe im Dorf.
Am nächsten Tag war wieder Unruhe im Dorf. Da hieß es dann: „Du, zieht schnell die weißen Fahnen ein! Die SS-Leute schießen auf alle weißen Fahnen.“ Stellenweise ist das auch geschehen; in Westkirchen sind mehrere Schüsse gefallen, aber dann war Ruhe den ganzen Vormittag.
Bei Schäpers an der Mühle standen mehrere Panzer. Gegen halb neun bis neun kamen drei SS-Unteroffiziere mit Motorrädern von Freckenhorst her gefahren. Sie wollten „spekulieren“, ob Panzer in Westkirchen waren. Als sie 100 Meter vor dem Dorf anhielten, hat die Panzerbesatzung gerufen: „Hände hoch!“  Die SS-Leute haben aber umgedreht, so schnell sie konnten, und wollten fliehen. Da haben die Panzer gefeuert und alle drei erschossen. Die drei sind auf unserem Friedhof beerdigt worden, es waren zwei aus Unna und einer aus Lippstadt. Im Sommer sind sie dann in ihre Heimatorte umgebettet worden.
Zeitzeuge S.:
Am Karsamstag sind sechs, sieben Panzer bei Everinghoff auf den Hof gefahren und haben da gespeist, Eier gegessen. Dann sind sie in aller Ruhe weiter gefahren nach Ostenfelde.
 
Während des Durchzugs waren am Bahnhof und an der Kirche Panzer stationiert. Am Nachmittag fuhren Nachschubtransporte durch Westkirchen, Amerikaner, Engländer, Franzosen. Wir sind alle zum Kriegerdenkmal gelaufen, etwa 30 Personen. Dort kamen die Fahrzeuge aus Freckenhorst und bogen ab in Richtung Beelen. Zwei junge Kerle sprangen von einem Motorrad ab und hielten uns zurück, damit wir nicht zu nahe kamen. Aber welch ein Material! Auf jedem Panzer standen vier, fünf Soldaten mit Karabinern im Anschlag, aber es fiel kein Schuss. Manchmal mussten die Panzer anhalten, denn es kam Wagen an Wagen, Transport an Transport – zuerst die Panzer mit den Purpurdecken, dann Maschinengewehre, Motorwagen mit Munition, Brennstoffwagen und noch mehr – eine kolossale Kolonne. So etwas habe ich – hat Westkirchen – noch nie im Leben gesehen. Der ganze Transport hat gedauert von nachmittags etwa halb drei bis sechs Uhr – ohne Unterbrechung, in einer Tour.
 
Am Ostermontag kamen mehrere Transportwagen mit Mannschaften. Hier kam ein Wagen mit 16 Mann angefahren. Sie verteilten sich und durchsuchten zu viert alle Häuser. Ein Soldat mit einer Pistole in der Hand fragte mich: „Nix soldatisch? Nix Pistole?“ Ich antwortete: „Nix!“ Die Soldaten sind durch den Kuhstall und den Keller gegangen. Im Keller haben sie ein paar Flaschen mitgenommen, aber sie haben sich vertan: es waren nur Flaschen mit Saueressig.
 
Die Amerikaner gingen durch alle Häuser und durchsuchten sie nach versteckten Soldaten. Wenn keine weiße Fahne aushing, schlugen sie mit dem Gewehrkolben an die Haustüren. Dann beeilten sich die Bewohner, ein weißes Tuch herauszuhängen.
Am Tag nach der Durchsuchung der Häuser, am Osterdienstag, hatten sich etwa 25 deutsche Soldaten auf einen Hof eingefunden und lagerten in der Scheune. Der Bauer war besorgt und sagte: „Wir dürfen doch keine deutschen Soldaten aufnehmen. Was ist, wenn die Amerikaner wiederkommen?“ Die Älteren meinten: „Die jungen Burschen wollen doch nicht in Gefangenschaft kommen.“ Schließlich haben sich die Soldaten aber ein Fähnchen gebastelt und sind weiter gezogen. Ein paar Stunden später kam eine amerikanische Kontrolle und fragte, ob Soldaten hier gewesen wären. Sie wollten auch wissen, wie viele Nazis es hier gäbe. Der Bauer wusste es wohl, aber, na ja, sie haben nichts erfahren. Man konnte sich sehr gut mit den Amerikanern unterhalten. Sie haben Karten gezeigt, auf denen jeder Weg und Steg zu finden war. Sie wussten genau Bescheid, wie sie fahren konnten.


Nachkriegstage

Überfälle durch polnische Fremdarbeiter am 30.09.1945
 
(Ein von mehreren Zeitzeugen zusammengestellter Bericht)
Auf dem Weg zwischen dem Hohen Kreuz und Warendorf kamen zwei junge Westkirchener, der Schlossergesellen Bernh. Strotkamp und der Schuhmachergesellen Josef Beste, mit ihren neuen Rädern gefahren. Gleichzeitig näherten sich von Kenkenberg her etwa 10 Polen. An der Stelle, wo der Sandweg den Ortsbach überquert, trafen sie zusammen. Was genau geschehen ist, weiß kein Mensch, denn Zeugen hat es außer den Polen nicht gegeben. Jedenfalls wollten die Polen wohl die Fahrräder haben. Als die beiden jungen Männer sich weigerten sie herzugeben, wurden sie erschossen. Bernh. Strotkamp starb sofort, Josef Beste wurde in den Rücken geschossen und erlag später seiner schwehren Verletzung.
 
Das war ein Skandal damals. Aber mit einem guten Rad durfte man sich in der Zeit nicht auf die Straße wagen. Wenn ich mit dem Fahrrad nach Warendorf fahren musste, habe ich den Hinterreifen zuerst zweimal mit Strohband umwickelt, als ob er kaputt sei.
 
Einbrüche, wie etwa in Holtrup, hat es auf dem Domhoff aber nicht gegeben.
Auf einem Hof kam gegen 11 Uhr abends ein ganzer Trupp ehemaliger Fremdarbeiter. Sie waren stark betrunken. Sie waren von Haus zu Haus gegangen; die ersten hatten ihnen auch etwas gegeben. Sie verlangten irgendetwas, einfach aus Spaß daran Angst zu machen. Sonst konnte man gut mit ihnen umgehen, aber wenn sie Freigang hatten und Alkohol bekamen… In Beesen haben sie bei einer solchen Gelegenheit einen Bauern erschossen.
(Zeitzeuge K.)
Einer traurigen Begebenheit muß ich gedenken. Herr Hohelüchter wurde von Frau Richter dazu bestellt eine Lade an ihrem Schrank zu öffnen die sie selbst nicht loskriegen konnte. Hohelüchter bekam die Lade los und fand darin drei feindl. Handgranaten. Er wollte diese sofort unschädlich machen und fand dabei den Tod; auch eine umquartierte Frau aus Essen, die gerade zu Näharbeit anwesend war.

Auszüge aus dem "Tagebuch" des Zeitzeugen K.:

23.07.1945:
An Landwirte sind bisher schwer ausgeplündert worden: Bernh. Voß,  Theod. Sutthoff,  u. Aug. Bußmann.

31.07.1945:
Vergangene Nacht wurde Terharen ausgeplündert.

12.09.1945:
Abends 9 Uhr 15 erscholl die Brandsirene. Das Wohnhaus des Postschaffners Frisch stand in Flammen. Der Dachstuhl ist abgebrannt. Ursache unbekannt.

15.10.1945:
Der Tommi holte sich die Autos von Frede, Bombeck und Schäpers.

20.10.1945:
Heute war der Tommi im Dorf und macht Quartiere für eine neue Besatzung – es wird sich wahrscheinlich um Winterquartiere handeln.

21.10.1945:
Jede Haushaltung hat eine schriftliche Aufforderung zur Abgabe von Kleidung u. Bettwäsche von der Militärregierung bekommen.

30.10.1945:
Wir haben eine neue Gemeindevertretung bekommen. Die Vertretung setzt sich wie folgt zusammen: Nünning, Quante, Löpping, Damhorst, Wöstmann Gg., Strotkamp Hch. und Ewers.

07.01.1946:
Der Betrieb Damhorst wurde heute vom Tommi stillgelegt. 20–30 Mann liegen auf der Straße.

15.01.1946:
Der Betrieb Damhorst ist nach 3tägigem Stilliegen wieder eröffnet worden.

15.01.1946:
Heute wurde der ehemalige Ortsgruppenleiter vom Tommi wieder weggeholt. Ursache noch unbekannt.

31.02.1946:
Gestern haben wir nun endgültig eine neue Gemeinde-Vertretung bekommen. Sie setzt sich wie folgt zusammen: Bürgermeister Th. Ringbeck, Stellvertr. Bürgermeister Joh. Damhorst, Bauer Quante, Pastor Löpping, Aug Witte, Heinr. Ewers, Heinr. Beckmann, Ant. Hölscher sen., Arnold Hanhardt, Heinr. Strotkamp und Frau Agnes Frisch.

10.02.1946:
Unsere Gemeindevertretung bereits tätig. Die sogenannte kalte Straße oder Kirchstraße auch genannt soll ganz neu gemacht werden. Die Gemeindekasse soll einen Bestand von rund RM 9o000,- aufweisen.

17.09.1946:
Heute holte der Tommi dem ehemaligen Ortsgruppenleiter, der sich immer noch in Haft befindet das beste Zimmer weg.

26.09.1946:
Damhorst wurde von der Amtsverwaltung zum Amtsbürgermeister gewählt.

13.01.1947:
Bernh. Witte von hier bekam die Nachricht, daß sein Sohn Paul in der französischen Gefangenschaft gestorben sei.

15.07.1947:
Heute ist der ehemalige Ortsgruppenleiter aus der Haft zurückgekehrt.

25.10.1947:
Gestern verhaftete man hier zwei Söhne des Landwirts T.R. angeblich wegen Schwarzschlachten.

30.04.1948:
Unser ehemaliger Ortspropagandaleiter J.B. wurde von der Militärregierung zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt und gleich da behalten. Es lag vor: Schwarzbrennen, Schwarzschlachten und Schwarzbuttern.

27.05.1948:
In diesem Jahr geht die Fronleichnamsprosession einen andern Weg. Die dritte Station ist an der Domhoferstraße verlegt.

10.11.1948:
Unser Gemeinderat setzt sich wie folgt zusammen: Bürgermeister Ringbeck, Gemeinderäte Witte, Quante, Strotkamp (letzterer stellvertr. Bürgermeister) Schulze Bövingloh von der CDU; von der SPD Novarra und Teibler. Amtsbürgermeister Damhorst mußte Wulfheide aus Beelen weichen.

 
Deserteure nach Kriegsende

(Zeitzeuge S.)
Als der Krieg zu Ende war, versuchten viele ehemalige deutsche Soldaten, auf Nebenwegen wieder zu ihren Familien zu gelangen. In Westkirchen hatten die Amerikaner an den wichtigsten Kreuzungsstellen, im Dorf und am Handweiser nach Beelen, Posten aufgestellt, um die Deserteure in Gefangenschaft zu nehmen. Die Heimkehrer mieden also diese Stellen und kamen auf ihrem Weg Richtung Warendorf oder Freckenhorst bei uns vorbei. B. gelang es immer, sie abzufangen und auszuhorchen und so wusste er über die Lage im Land Bescheid. Im Gegenzug versorgte er die Männer mit Lebensmitteln, denn durch seine Beziehungen zu den Bauern hatte er stets genug zu essen.
 
Einmal kam ein Mann bei uns vorbei, der nach Coesfeld wollte. Er hatte sich bei uns in der Werkstatt versteckt, um ein wenig auszuruhen. Weil er rotes Haar hatte, fragte er nach einem Hut, um nicht so aufzufallen und auf seinem weiteren Weg als Zivilperson angesehen zu werden. Wir dachten, er sei fort, da kamen schon die Soldaten vom Handweiser und kontrollierten wieder einmal unsere Räume. Doch plötzlich sahen wir den Mann noch einmal durchs Küchenfenster blicken. Herr B. hat die Soldaten dann aufgehalten und ihnen vom Schicksal unserer Mutter und den gefallenen Söhnen erzählt, um dem Deserteur einen Vorsprung zu verschaffen. Zum Glück hatten wir ein Bild mit einem Trauerflor an der Wand hängen; das respektierten die Soldaten und verließen das Haus. Wir haben nie wieder von diesem Mann gehört und hätten doch gern gewusst, ob er heil bis Coesfeld gekommen ist.
 
Viele Männer waren damals in den abenteuerlichsten Zivilverkleidungen unterwegs, mancher mit einer Forke auf der Schulter, um als Landarbeiter zu gelten. Hätten die Amerikaner genauer hingeschaut, hätten sie trotzdem die Landser leicht an ihren Militärstiefeln erkennen können, für die nicht so leicht Ersatz zu beschaffen war.

 
Evakuierte und Flüchtlinge

Als die Briten im Westen mit den Bombardierungen begannen, kamen auch die ersten Ausgebombten und Evakuierten aus dem Ruhrgebiet und den westlichen Großstädten nach Westkirchen. Sie fanden zunächst Aufnahme in den Häusern des Dorfes und auf den Bauernhöfen. Später jedoch – mit den einsetzenden Flüchtlingsströmen aus den deutschen Ostgebieten – wurde die Unterbringung immer schwieriger.

Die Ostvertriebenen hatten – verglichen mit den Evakuierten – ein ungleich schwereres Los. In der Regel hatten sie außer dem Notwendigsten alles verloren, was sie einst besaßen, nicht selten auch liebe Angehörige, und sie litten unter Heimweh.
Andererseits war es auch für die unfreiwilligen „Gastgeber“ nicht einfach, mit den Zuweisungen fertig zu werden. In den meist kinderreichen Familien herrschte nicht selten ohnehin schon Enge, so dass Spannungen und Reibereien im Alltagsleben fast unvermeidlich waren. Es verlangte zweifelsohne ein großes Maß an Mitmenschlichkeit und Warmherzigkeit, um in dieser Situation allen gerecht zu werden.
In den Protokollen der Gemeinderatssitzungen aus jener Zeit kommen die Probleme um die Unterbringung und Versorgung der Evakuierten und Flüchtlinge häufig zur Sprache. So geht es in der Sitzung vom 6. 6. 1944 im TOP 2 um den Bau von Behelfsheimen und es heißt dort: „Der Amtsbürgermeister verliest eine Verfügung des Landrats vom 11.5.44 […], wonach in der Gemeinde Westkirchen für später aufzustellende Behelfsheime 20 Plätze zur Verfügung gestellt werden müssen. Die Lage muß so sein, daß Wasser und Licht leicht zu beschaffen ist. Ferner hat die Gemeinde außerdem 8 Behelfsheime aufzustellen, die fertig geliefert werden. Die Anwesenden werden auf die Dringlich- und Wichtigkeit dieser Maßnahme besonders hingewiesen und zur tatkräftigen Mitarbeit aufgefordert. Dem Bürgermeister obliegt im Zusammenwirken mit dem Ortsgruppenleiter, Ortsbauernführer und Amtsbürgermeister die Durchführung.“

Im folgenden TOP 3 wird die Dringlichkeit konkretisiert: „Infolge der starken Luftangriffe ist mit einer weiteren Evakuierung zu rechnen. Nach der Verfügung des Landrats vom 1.6.44 … sind in der Gemeinde Westkirchen Personen in der Schule und in Säälen unterzubringen.“
Die Gemeindevertretung sieht sich gezwungen, eine Wohnungserfassungs-Beschaffungskommission einzurichten, in die z. B. im Januar 1946 folgende Gemeinderatsmitglieder gewählt werden: „1. Gerhard Quante   2. Johann Damhorst   3. Strotkamp   4. Wöstmann.“ Eine weitere Kommission, die „Wohnungskommission zur Unterbringung der Flüchtlinge setzt sich aus folgenden Herren zusammen: Strotkamp, Beckmann, Wöstmann, Hanhardt, Quante.“
Aller Wohnraum wird erfasst und jedes Gebäude auf seine Belegungsmöglichkeit hin überprüft. Die Gemeindevertretung Westkirchen hat zu diesem Zweck ein Verzeichnis aller Haushaltungen erstellt.
 
Die Gemeinde bekommt ein bestimmtes Kontingent an Flüchtlingen zugewiesen, für die es schnell passenden Wohnraum zu finden gilt. Im Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 27. 8. 1947 wir daher über den Bau von sog. „Siedlungs-Kleinwohnungen“ beraten: „Über die geführten Verhandlungen hält der Vorsitzende einen Vortrag. Danach ist beabsichtigt, ein Grundstück in Größe von 2 – 4 Morgen am „Unteren Krüzkamp“ vom Frhr. von Nagel für die Dauer von 10 Jahren für die Aufstellung von Flüchtlings-Behelfsheimen zu pachten. Es sind 16 Behelfsheime vorgesehen.
Viele nehmen wechselseitig Rücksicht oder teilen, was vorhanden ist. Doch oft fällt es den Habenden schwer, von ihrem Besitz etwas herzugeben, wie auch das folgende Beispiel zeigt.
Die Gemeinde sieht sich in der Pflicht, den Vertriebenen neben Wohnraum das notwendige Heizmaterial und Möbel zur Verfügung zu stellen – doch nicht jeder Abgabepflichtige gibt gern und gut. So mahnt die Gemeindevertretung in der Sitzung vom 7. 11.1947: „Die Anlieferung des Nutzholzes für die Anfertigung der Möbel für Ostvertriebene ist nicht zur Zufriedenheit ausgefallen. Es soll dahin gestrebt werden, dass in Zukunft bei Anforderungen von Nutzholz auch wirkliches Nutzholz und kein Brennholz geliefert wird.
Über die Dringlichkeit des Brennholzeinschlages seitens des Kleinwaldes wird debattiert und es soll unter allen Umständen erreicht werden, dass die Bauern, insbesondere die aus dem Vorjahre im Rückstand sind, schnellstens zum Einschlag übergehen.“
 
Der knappe Wohnraum wird von der Gemeinde verwaltet, die nicht selten ein regelrechtes Umzugskarussell in Gang setzt, wie im Protokoll der Sitzung vom07.01.1949 unter dem Stichwort „Wohnungsangelegenheiten“ dokumentiert ist: „Nowarra wird das von dem Metzger Theodor Hartmann zu errichtende Behelfsheim zugewiesen. Die freiwerdende Wohnung des Nowarra bei Große Schürmann soll zu gegebener Zeit Kintscher erhalten. Der Friseur Deitert erhält die 2 bisher von Huisgen benutzten Räume im Mais’schen Hause zugewiesen. Unter Belassung in den bisherigen Räumen bei Fleuter wird dem Friseur Vogel der im Hause Fölling bisher von Deitert benutzte Raum zugesprochen.“
Viele Vertriebene bemühen sich um Arbeit und die Verwaltung unterstützt sie dabei. Ein Beispiel findet sich im Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 27. 8. 1947. Dort geht es um die „Verpachtung eines Teils der Römerstrasse für Korbweidenkultur. Die Gemeindevertretung ist damit einverstanden, dass ein Teil der Römerstrasse an den Ostflüchtling Dreier für die Korbmacherei verpachtet wird.“
Einige Westkirchener Familien haben schon während der Kriegsjahre und vor dem Einsetzen der Flüchtlingsströme bei Kriegsende Evakuierte aus Münster, Aachen oder aus dem Ruhrgebiet aufgenommen. Diese Familien – oft handelt es sich um Verwandte oder Bekannte – sind zwar ausgebombt, haben aber ihre Habe zum größten Teil retten können. In diesen Fällen verläuft das Zusammenleben entschieden harmonischer.
(Zeitzeuge S.)
Am Domhoff haben drei Behelfsheime gestanden, am Nienkamp gab es einige und hinter dem Kriegerdenkmal am ehemaligen Sportplatz. Insgesamt waren es etwa 15. Auch die Baracke des NSV-Kindergarten wurde später für Wohnzwecke genutzt. Als nach dem Krieg die Gemeinde Westkirchen für neuen Wohnraum sorgte, wies sie am Nienkamp drei Kleinsiedlerstellen aus. Zu jedem Bauplatz gehörten ein großes Gartengrundstück und ein Stall. Die Bewohner mussten sich verpflichten, das Nebengebäude mindestens zehn Jahre auch tatsächlich als Stall zu nutzen.


Moral, Tanzveranstaltungen

In den ersten Nachkriegsjahren schlägt die Lebenslust der Menschen nach den Entbehrungen der Kriegsjahre hohe Wellen. Doch in der Öffentlichkeit gelten strenge Regeln. So werden die Sperrstunden streng überprüft und „öffentliche Tanzlustbarkeiten“ sind genehmigungspflichtig, so dass die Gemeinderatsmitglieder darüber befinden müssen. Im Protokoll der Sitzung vom 30. 7. 1948 heißt es daher: „Die Entscheidungsbefugnis über Tanzerlaubnisanträge wird auf Grund des § 1 Abs. 2 der Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Veranstaltung von öffentlichen Tanzlustbarkeiten vom 16. April 1948 dem Gemeindebürgermeister und dem Amtsdirektor übertragen.“
Doch auch im privaten Bereich funktionieren die soziale Kontrolle und die Überwachung der dörflichen Moral. Verstöße werden in der Ratssitzung geahndet, so am 7. 11. 1947: „Der Bürgermeister trägt die Wohnungsangelegenheit des J. G. vor. Das ungebührliche Verhalten des G. und seiner Töchter setzt die Vertretung in Erstaunen. Es wird gefordert, dass entsprechende Massnahmen gegen G. durch die Kreisverwaltung eingeleitet werden.“
(Zeitzeuge S.)
 
Als sich das Leben nach dem Krieg wieder normalisierte, gab es in Westkirchen auch Filmvorführungen. Der Strotmannsche Saal diente dabei als Kino. Sehr beliebt waren Vorführungen wie ein Mozartfilm, die durchaus mehrmals besucht wurden, solange der Streifen im Ort lief. Neben dem Eintritt hatte man ein Stück Holz mitzubringen, da der Saal sonst nicht beheizt werden konnte.
 
Die Gaststätten boten Tanzabende an. Die Besatzungskräfte durften daran nicht teilnehmen, um „Fraternisierung“ zu unterbinden. Trotzdem ließen sich Kontakte nicht verhindern; Verhältnisse zwischen einheimischen Mädchen und Besatzungssoldaten verstießen aber in den Augen des Dorfes gegen die guten Sitten.
 
W.S. erinnert sich, dass sie während des Krieges einmal in Begleitung eines deutschen Soldaten, der bei ihnen einquartiert war, einen Tanzabend besuchen durfte. Dieser Soldat wusste, wie Frau G.S. dachte und was sie erwartete, und hat daher die Tochter rechtzeitig und wohlbehalten wieder nach Hause gebracht. Auf die Angebote eines russischen und eines französischen Kriegsgefangenen dagegen ließ sich ihre andere Schwester nicht ein.
 
W.S. erzählt: Allerdings hatten wir auch als Einquartierung eine Dame, die sich gut zurechtzumachen verstand. Zu ihr kam der Besuch abends durchs Fenster, wir bekamen ihn nie zu sehen. Als sie einmal in unserer Küche stand, um sich ein Schnitzel zu braten, sagte sie zu meiner Mutter: „Frau S., ich bin schlecht.“ Diese Einsicht hinderte sie aber nicht daran, weiterhin durch das Fenster aus- und einzugehen und ihren Besuch auf demselben Weg zu empfangen.


Schwarzmarkt

(Zeitzeuge S.)
Ein begehrtes Tauschobjekt stellte auch selbst gebrannter Schnaps dar. Auf so manchem Hof war in einem Nebengebäude eine gut getarnte Schwarzbrennerei untergebracht, in der Hochprozentiges in teilweise recht guter Qualität entstand. Nur über die genaue Höhe der Prozente ließ sich nur schwer etwas aussagen, was so manchem zum Verhängnis wurde.
 
Kohlen stellten ebenfalls Mangelware dar und waren – bei entsprechenden Beziehungen – nur im Tauschhandel zu besorgen. Ein Steiger aus dem Ruhrgebiet, der an größere Mengen Deputatkohle kommen konnte, hatte aus diesem Mangel ein schwunghaftes Geschäft entwickelt. Er fuhr regelmäßig mit dem Zug nach Westkirchen, handelte bei den hiesigen Interessenten aus, was sie im Austausch für die Kohle anzubieten hatten, und trug alles in eine lange Liste ein. Zu vereinbarter Stunde kam dann die Bestellung per Güterzug nach Westkirchen und die Leute konnten ihre Kohlen am Bahnhof im Austausch gegen die vereinbarten Naturalien in Empfang nehmen. Auch wir sind auf diese Weise an unsere Brennmaterialien gekommen. Nach einiger Zeit musste der Steiger diesen lukrativen Erwerbszweig allerdings aufgeben, weil er beobachtet worden war und das Geschäft zu gefährlich wurde.
 
Verzweifelt war die Lage in dieser Zeit für Menschen, die keine Sachwerte zum Tauschen besaßen oder die nicht über die richtigen „Beziehungen“ verfügten. Ihnen blieb zum Überleben oft nichts anderes übrig, als das Lebensnotwendige zu stehlen. Als Kardinal Frings in seiner berühmten Predigt dieses Problem thematisiert und quasi legalisiert hatte, waren die Betroffenen sehr erleichtert und nannten ihre Beschaffungsstrategie dankbar „fringsen“.

 
Schwarzschlachten
 
In den Kriegs- und Nachkriegsjahren unterliegt alles der Zwangsbewirtschaftung. In jedem Erzeugungszweig sind die Abgaben streng geregelt und werden genau überprüft, weil der Mangel groß ist. Trotzdem sind auf den Höfen das Abzweigen von Milch zur Butter- oder Käseherstellung und das Schwarzschlachten gang und gäbe. Wer eine offene Hand hat und den vielen Fremden auf dem Hof etwas davon abgibt, kann vor Denunziation ziemlich sicher sein. Häufig kommt es aber auch zu Anzeigen, mit denen sich die Gemeindevertretung befassen muss.
(Zeitzeuge S.)
Die Bauern mussten ihren gesamten Viehbestand zahlenmäßig angeben. Es kam jedoch häufig vor, dass ein Bauer sich „verzählte“ und dann ein Tier zum Schwarzschlachten übrig hatte. Wenn er allerdings den Flüchtlingen oder anderen Fremden, die unter seinem Dach wohnten, nichts abgab, konnte es leicht passieren, dass er angezeigt wurde, wie auf einem Westkirchener Hof geschehen. Der Bauer hatte aber Glück. Ein ihm wohl gesonnener Angestellter bei der Beelener Amtsverwaltung warnte ihn telefonisch vor, dass ein Kontrolleur unterwegs sei. So konnte er das Fleisch noch rechtzeitig bei Seite schaffen.
 
Eiine andere Familie hatte zwei Schweine geschlachtet, ein weißes und ein schwarzweißes, bei der amtlich vorgeschriebenen Trichinenschau aber nur das weiße vorgezeigt. Dummerweise lagen aber noch schwarze Borsten herum, die der Trichinenbeschauer sehr wohl bemerkt hatte. Er hat aber nichts gesagt und die Familie erst sehr viel später auf ihren Leichtsinn aufmerksam gemacht.

 
Schule 1944

(Zeitzeuge S.)
Im Laufe des Jahres 1944 wurde der Schulbetrieb eingestellt. Die Klassenräume wurden zunächst als Unterkunft für eine Einheit Soldaten gebraucht. Im Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 06.06.1944 heißt es dazu: „Infolge der starken Luftangriffe ist mit einer weiteren Evakuierung zu rechnen. Nach der Verfügung des Landrats vom 1.6.44 Ar. 924/W.200 /04/7a sind in der Gemeinde Westkirchen Personen in der Schule und in Sälen unterzubringen. Die Belegung erfolgt mit Luftschutzbetten.“
Zeitzeuge: Zwei der Soldaten kamen zu unserem Haus und fragten, ob sie bei uns übernachten könnten, weil sie nicht in der Schule schlafen wollten. Meine Mutter hat zugestimmt, und so kamen sie jeden Abend zu uns. Sie stammten aus Hamburg und erzählten viel von ihrer Heimat, dem Alten Land mit seinen vielen Kirschbäumen. Einer der beiden ist später gefallen, Seine Familie hat uns Nachricht geschickt, weil sie unsere Adresse hatten.

 
Geldentwertung

(Zeitzeuge S.)
Ich erinnere mich an die Zeit, als ein Pfund Butter hundert Mark kostete. Wir hatten ja Geld, konnten aber nichts dafür kaufen. Begehrte Waren gab es nur auf dem schwarzen Markt.
 
Über Nacht, an einem Sonntag, kam dann die Umstellung. Jeder von uns bekam 40 Mark. Ich habe für mein Geld vier Meter weißen Stoff gekauft für mein Brautkleid. Frau K., die Schneiderin war, hat mir das Brautkleid genäht, aber den Lohn konnte ich von meinem Kopfgeld nicht mehr bezahlen. Den hat mein Mann später an Frau K. gezahlt, als er Gehalt bekommen hatte. Damals wurden die Löhne und Gehälter wöchentlich ausgezahlt, damit die Menschen das Nötigste einkaufen konnten.
 
Das alte Geld konnte nach der Währungsreform umgetauscht werden, es gab aber nicht viel dafür.


 
 
 
Dorfarchiv Westkirchen e.V.
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