Joseph Schlotmann, ein Geschichtenerzähler aus Westkirchen - Dorfarchiv-Westkirchen e.V.

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Joseph Schlotmann, ein Geschichtenerzähler aus Westkirchen
 

Unter den Schätzen des Dorfarchivs Westkirchen befinden sich viele Artikel aus alten Ausgaben der Glocke, die sehr lebendig das Dorfleben zu Anfang des 20. Jahrhunderts schildern. Der Autor dieser Aufsätze, Joseph Schlotmann (*1888), ist ein gebürtiger Westkirchener, der seit 1929 als Lehrer gearbeitet hat, zunächst in Wiedenbrück und später in Bad Lippspringe, wo er bis zu seiner Verabschiedung aus dem Schuldienst im Jahr 1953 als Volksschulrektor tätig war. In Bad Lippspringe hat er lange Jahre mit seiner Familie gewohnt und dort liegt er auch begraben.

Joseph Schlotmann blieb seinem Geburtsort zeitlebens eng verbunden; hier spürte er nach Art eines Dorfchronisten den Ereignissen und Zusammenhängen aus alter und neuer Zeit eifrig nach. Er hat viele heimat- und naturkundliche Berichte verfasst und auch eine Ortsgeschichte geschrieben, die der Männergesangverein Westkirchen 1928 in die Festschrift zur Einweihung seiner Vereinsfahne aufgenommen hat. Die meisten Texte stammen aus den Jahren von etwa1925 bis 1939.

 
Was viele seiner besten Geschichten auszeichnet, ist die persönliche Einbindung des Autors in das Geschehen. Dadurch gewinnt das Erzählte an Authentizität und fesselt selbst heute noch den Leser. Einige der Geschichten spielen auf dem Bauernhof von Joseph Schlotmanns Großvater mütterlicherseits, Hermann Schulenberg. Der damalige Hof Lütke Schulenberg, heute Feuersträter, liegt nicht weit vom Dorf entfernt an der Domhoffstraße. Joseph Schulenberg besuchte seinen Großvater oft und gern und die Erzählungen dieses phantasiebegabten Mannes scheinen den Chronisten stark beeinflusst zu haben. In den Geschichten des Großvaters treffen Fabulierlust und das uralte Erahnen von Übersinnlichem zusammen und verbinden sich zu starken Eindrücken für ein phantasiehungriges Kindergemüt.
 
Außer in den alten Ausgaben der „Glocke“ sind die Schlotmannschen Aufzeichnungen nirgendwo veröffentlicht worden. Daher sind sie selbst in seinem Heimatort weitgehend in Vergessenheit geraten. Das ist sehr schade, denn J. Schlotmann verfügte über ein bemerkenswertes Erzähltalent, mit dessen Hilfe es gelingen kann, selbst heutigen Lesern die alten Lebensformen und Traditionen – obwohl sie nicht mehr den damaligen Stellenwert besitzen – fesselnd und lebendig nahezubringen.
 


Über den Heimatverein von Bad Lippspringe ist es gelungen, Nachfahren von J. Schlotmann ausfindig zu machen. Sein Enkel Helge Temme wohnt noch heute in dem Haus, das J. Schlotmann 1952 in Bad Lippspringe gebaut hat. Dort befanden sich auch noch handschriftliche Aufzeichnungen seines Großvaters  J. Schlotmann, die Herr Temme dem Dorfarchiv Westkirchen überlassen hat. Gleichzeitig hat er einer Veröffentlichung zugestimmt, ebenso wie die „Glocke“, die einige der hier abgedruckten Texte bereits in den Jahren 1928 und 1939 veröffentlicht hat. Mit dieser freundlichen Erlaubnis erfahren die folgenden Geschichten und Gedichte hier nun eine Wiedergeburt.
 
Ebenfalls erschienen im Jahrbuch des Kreises Warendorf 2022, Verfasser: Dorfarchiv Westkirchen e.V.


Der alte Schrank
 

Mein Großvater starb 1897 im Alter von 81 Jahren. Ich zählte damals deren neun. Bis auf den heutigen Tag steht mir mein Großvater klar vor Augen mit seinem blauen Leinenkittel, dessen weite Falten für uns Kinder liebliche Geheimnisse bargen, mit seinem groben Eichenstock ohne Krücke, durch dessen Lederriemen die Hand geschoben wurde, mit seiner scharfen, schmalen Hakennase, die er allerdings auf keines seiner fünf Kinder vererbt hat. Noch deutlicher aber haften in meinem Gedächtnis einzelne der unheimlichen Geschichten, die er abends am knisternden Herdfeuer erzählte, während die Würste und Speckseiten im Rauchfang (Bousen) im hellen Scheine des flammenden Holzes behaglich dazu schaukelten und mir das Grausen über den Rücken lief.
 
Mein Großvater starb in der Bauernkammer, die er einst mit seiner jungen Frau bezogen und dann durch 50 Jahre in Besitz hatte. Die Balken und die dicken Eichenbohlen der Decke waren fast schwarz vor Alter. Die wuchtigen, klobigen Möbelstücke von unverwüstlicher Haltbarkeit standen seit Jahrhunderten an ihrem Platz: das Himmelbett, die Schreiblade, die Truhe und vor allem der kombinierte Kleider- und Leinenschrank, „dat graute Schapp“. Von diesem Schrank will ich erzählen.
 
Mein Großvater nahm mich kleinen Hosenmatz, der ich sehr oft bei ihm zu Besuch kam, häufig mit in seine Kammer. Nach Durchschreiten der Tür ging es vier quietschende, etwas holprige Stufen hoch. Denn unter der Kammer befand sich, von der Deele aus zugänglich, eine Art Keller, der einzige frostfreie Raum im Hause, ohne Fenster, voll unheimlich schwarzer Nacht, in dem zur Winterszeit Kartoffeln und andere Dinge aufbewahrt wurden. Nach Überwindung dieser Stiege stand man vor dem gewaltigen Himmelbett, dessen starke, eichene Ecksäulen oben in grässlich grinsenden Tierköpfen endeten, denen die hölzernen Vorhangstangen aus den Nasenlöchern wuchsen. Schwer hing das blau bedruckte Leinen nieder. Zu Füßen des Bettes, noch einen Weg zu einer Butzenscheibe freilassend, durch die man die Deele übersehen konnte, stand das Ungetüm von Schrank, viertürig, etwas vornüber geneigt, weil die dicken, breiten Eichenbohlen des Fußbodens sich unter seiner Last ein wenig gebogen hatten. Dieser Schrank maß über drei Meter in der Breite und einen Meter in der Tiefe. Je ein schweres Gesimse hielt ihn oben und unten umfasst, und wie gewaltige Pranken griffen seine acht Füße an den Boden. „Dat sind Löwenpattken“, erklärte mein Großvater, und ich sah in meiner kühnen, von der Furcht vor dem Ungewissen aufgepeitschten Jungenphantasie zwei dieser Raubtiere sprungbereit unter dem Schrank kauern. Ich war auch davon überzeugt, dass der schwere Eisenbeschlag des Schrankes eigens angebracht war, um sie zu bändigen. – Mit Vorliebe zeigte mir der Großvater das Geheimnis des Schrankes, zwei „Inkästkes“, das sind Geheimfächer, verriet mir aber nicht, wie sie geöffnet wurden. „Junge,“ sagte er dann, „Inkästkes möttet daobi sien, bi´n Schapp un bi´n Mensken auk, süs düöget se nich.“
 
Eines Tages zeigte er mit dem Eichenstock auf ein Schildchen oben am Gesimse des Schrankes und sagte: „Junge, kanns du liäsen? 1607! Binaohe 300 Jaohre, denk di dat!“ Er öffnete eine der schmalen Mitteltüren. Die Innenseite der Tür zeigte untereinander elf Jahreszahlen und hinter jeder eine Anzahl senkrecht eingeritzter Striche. Erste Reihe 1607: I I I I I I I I I. Es folgte 1640 mit sieben Strichen, 1681 mit 12 Strichen, 1703 mit fünf Strichen, usw. Die letzte Reihe zeigte die Zahl 1849 mit fünf Strichen dahinter. „Dat sind se. De erste Riege dao, dat is mien Ahn von 1607, de düt Schapp timmern lait, un de niegen Strieke sind sine Kinner. Un hier in de tainte Riege, düsse Striek hier, dat sin ick. Un düsse leste Riege, de fief Strieke, de häff ik drinsnien. Vöstaihste nu? Un du, mien Jung, du kriegs kien´n Striek in düt Äikenschapp. Dien Vader, dat is je kien Buer un sitt nich hier up´n Huowe.“ Er öffnete auch die andere schmale Mitteltür, und ich musste die Rollen des gewaltigen Linnenvorrats zählen, der hier aufgestapelt lag, alles derbes Hausmacherbauernleinen, auf dem Hofe gesponnen und gebleicht, im nahen Dorfe gewebt. „Din Moder, wat min Dochter Kathrin is, de hät allerhand Rollen met in de Broutkiste kriegen; is owwer alles wier vull.“ Er schloss die Türen. Auf ihrer Außenseite erblickte man eingeritzt die Umrisse eines Mannes und einer Frau in Bauerntracht, die sich die Hand reichten. „Dat sind usse Vüöröllern van 1607. Ick wäit nicks van iähr. Owwer dat de Buer en ganzen Kerl west is, de wuss, wat he wull, un daih, wat he moss, dat segg mi düt Schapp. Dat Schapp staiht fast, un de Buer stonn fast, un so stoht wi alle fast. Un nu kiek äs hier, wat de Mann hier in de Düör schriewen loaten hätt, daipe Ritzen sind dat un kin Hand un kin Hüöwel mäck dat weg:
 
„Trü un fast - dreg wi Lust un Last.- Härgotts Will - holt wi still. - Up Härgotts Wiägen - ligg immer Siägen.“
 
„Jung, du häs dat nich so in de Fust äs´n Buer. Du häs dat mähr met den Kopp. Schad´t nicks! Owwer hier, do holl di an!“ Und er stieß mit dem Eichenknüppel unter den Türspruch. Und ich gab laut zur Antwort: „Jau, Bessvadder, dat will ick!“ Ich sagte es weniger deshalb, weil ich etwa mit meinen acht Jahren schon den ganzen tiefen Sinn erfasst oder die innere Erschütterung meines Großvaters begriffen hatte, sondern weil der Großvater dann aus irgendeinem Versteck eine Handvoll gebackener Pflaumen hervorholte.
Und doch, es war ein Gelöbnis. Lange ist es her. Sie haben mich beide getreulich durchs Leben begleitet, der Schrank, von dem ich nicht weiß, wo er geblieben ist, und der Großvater mit seinen knappen eindringlichen Worten, den nun schon über 40 Jahre der kühle Rasen deckt.
 
 
Die Geschichten des Großvaters über den alten Schrank haben Joseph Schlotmann offenbar so beeindruckt, dass er sie, offenbar 1939, in einem plattdeutschen Gedicht verarbeitet hat, das nun folgen soll:
 
Dat aolle Schapp
 
„Mien aolle, laiwe Kläierschapp,
Wovon bis du so swatt?
Un wo ‘k di griep, un wo ‘k di grapp,
Du bis so stur un hatt! –
Dreihunnert Jaohr staihs du all daor,
Worüm so swatt un hatt?
Worüm so saor, worüm so taor,
Datt sölwst kien Wuorm di fratt? –
Häs du denn immer so vörsluoten
Hier in de Kammer staohn,
Dien Liäwen niemols recht genuoten,
Bloß diene Arbeit daon?
Du klappes los un to dien Düörn
Un höüs so Linn’n as Kläid,
So Dagesdag van trügg un vüörn!
Wäs du dat gar nich läid? –
Un wunnerfien düör dien Gesicht
Dao laupet Rieß un Folt!
Mien Kläierschapp, nu giff Bericht! –
Worüm so stumm un  stolt?“
 
So häff ick froggt un häff ick seggt
Un häff ick striept un strokt,
Un endlicks, endlicks hät’t sich reggt
Un hät sien’n Mund upmokt.
Dat klank so daip un klank so swaor
Un düster düör den Roum:
Et göngen met viell hunnert Jaohr!
Mi was dat äs in’n Droum …
 
„Säshunnert Jaohr denk ick all trügg,
Et is off Baum off Schapp.
Wat meins du, wat vorüöwerflügg,
Wenn ick mien’n Buk upklapp …
Ick haff dien Vüörderöllern kannt
Düör männig hunnert Jaohr,
Ick häff mi ansaihn met Vörstand
Iähr giäll un griese Haor.
In düsse Kammer sind se tüget.
Vör mi was nicks gehaim;
Ick saih se all an’anner rieget,
So äs in’n Busk de Baim!
So äs den Buern ‘t Liäwen niemt –
Ne ernste Sak, bi Gott! –
häff ick dat Brout- un Daudenhiemd
Vör alle trü behott.
Se hafft mi alles anvörtrout,
Iähr Kläid, iähr Geld, iähr Glück!
Vör miene Augen pöcken ‘s out
Iähr Elend, Stück vör Stück!
Ick moß iähr‘ ersten Schraie drinken,
Ick hört iähr’n lesten Söcht!
Ick soug iähr Schieppken unnersinken
Un wise up de Högggt.
Un  Buern  wörn’t, äs ick van Äiken
Un breit un hatt as ick,
Un wenn se di de Hand henräikten,
Dann gong’t düör dünn un dick.
Jung‘, kiek mi in’t Gesicht!
Slaoh up dien aolt Geslechterbouk
Un dann hett’t: Utgericht’t!“
 
Du laiwe aolle Kläierschapp,
Du staihs so swatt un hatt,
Un bis ´ne Löchte doch, Gott Dank,
Up mienen Liäwenspatt.
 
 
Es folgt eine unheimliche Geschichte, die in der Glocke veröffentlicht (Datum unbekannt) und durch folgende Anmerkung der Redaktion kommentiert wurde:

„… Solche Gruselmären wurden früher auf dem Lande von alten Leuten so oft erzählt, bis diese sie selbst glaubten und zornig wurden, wenn einer sie anzweifelte. Der unsinnige Glaube an ´Gespenster‘ war früher im Landvolke stark verbreitet, und er hat leider schon viel Unheil angerichtet. …“
Doch selbst dieser ehrenwerte Versuch, dem Rationalismus zum Siege zu verhelfen, kann dem unheimlichen Herdfeuerabend seinen magischen Zauber nicht nehmen.
 
 
Gruselige Herdfeuergeschichten
 

Ich zählte acht Jahre. Obwohl es in den dunklen Wochen vor Weihnachten war, hatte ich die Erlaubnis bekommen, zu dem sieben Minuten von Westkirchen liegenden Hof meines Großvaters zu gehen und dort am Abend noch ein Stündchen beim Großvater am Herdfeuer zu sitzen; denn es war Vollmondzeit.
 
Es dauerte mir viel zu lange bis zu dieser Geschichtenstunde. Dann aber war es soweit: Der Großvater rückte den alten Ledersessel zurecht; alle Hausbewohner reihten sich um das glimmende Feuer; eine Busche wurde an die glühenden Kohlen geschoben, dass bald die Flammen prasselten und aus den Enden des Holzes unter seltsamem Singen das letzte Wasser verdampfte; der Großvater spuckte den Priem in die Glut, stopfte die alte Weichselrohrpfeife mit dem schön gebräunten Birnbaumkopf, schob mit dem „Püster“ das Feuer etwas zurecht, holte sich mit der bloßen Schwielenhand eine glühende Kohle heraus und legte sie auf den Tabak. Dieser Vorgang wiederholte sich übrigens sehr oft, denn beim Erzählen ging ihm immer wieder „de Piepe ut“. Das Gespräch drehte sich zunächst um die Arbeiten des vergangenen und des kommenden Tages. Dazu berichtete einer, was der Nachbar gestern und heute machte, ein anderer, was der zweite Nachbar für die nächsten Tage plane, und während die Flammen allmählich kleiner wurden und von den um das Feuer Sitzenden seltsam schwarze Riesenschatten über die Wände huschten, glitt auch das Gespräch aus der Gegenwart in das Dämmerdunkel vergangener Tage.
 
Großvater erzählte von dem „Gespenst“ im Walnussbaum. Ich habe nie einen Walnussbaum von solcher Dicke gesehen wie den, der damals neben dem alten Schuppen auf dem Hofe stand. Einen Ast streckte er waagerecht weit in den Kamp hinein, einen Ast, so dick, dass er zu einem eigenen mächtigen Baume gereicht hätte. Ehemals aber hatte er einen zweiten Ast von derselben Güte gehabt. Unter diesem aber hatte noch in des Großvaters Jugendzeit jeden Abend in der dunklen Winterzeit ein – Riese gestanden mit glühenden Augen, „tinnentellersgraut“. Wenn einer sich in die Nähe wagte, hörte er ein unheimliches Schnauben, und die Augen drehten sich und folgten, wohin man auch gehen mochte. Mit dem Rücken aber lehnte sich die Gestalt gegen den Ast des Walnussbaumes, so groß war der Kerl, und hatte die Arme nach rückwärts lässig über „dat Boug“ gehängt. Der Großvater hatte eines Abends mit der Schrotflinte auf das Gespenst geschossen, aber sämtliche Schrotkörner waren zurückgekommen und in die „Niendüör“ geschlagen, wo die Körner, wie der Großvater versicherte, noch jetzt im Holze zu sehen seien. Als der Knecht an einem anderen Abend abermals mit der Flinte auf den Hof trat, flog ein „Speller“ (Holzscheit) mit furchtbarer Wucht an ihm vorbei gegen die Niendüör und zertrümmerte sie teilweise. Der „Baumeister“ aber ließ sich nicht abschrecken, und am nächsten Tage sägte er den Ast stark an. Am Abend gab es einen Krach: Der Ast war gebrochen. Das Gespenst aber stand mit unheimlicher Ruhe da, nun auf den anderen Ast sich stützend. Als man sich am nächsten Tage den Schaden besah, bemerkte man, dass an der durchsägten Fläche ein Loch in das Innere des Baumes führte. Am nächsten Abend legte sich der Großknecht bis nach Beendigung der Geisterstunde auf die Lauer und sah nun, wie das Gespenst zusammenschrumpfte und an der Sägestelle in den hohlen Baum schlüpfte. Der Knecht trieb folgenden Tages unter Bannsprüchen einen starken Keil in das Loch. Aber am Abend flog dieser mit lautem Krach in die Luft, und wieder stand der Spuk am Baume. Nun musste der Schmied einen Nagel zimmern, 10 Zoll lang und fast einen Finger dick. Wieder wurde ein Keil in das Loch geschlagen und diesmal der Nagel quer durch Keil und Baum getrieben. Nun hatten sie den Spuk gefangen, wie der Großvater seine Geschichte schloss; aber der Baum hatte seitdem keine Nüsse mehr getragen.
 
Ich hatte mich unterdessen längst von meinem Stuhl weg an die Knie des Großvaters geschlichen, der seltsam in unbestimmte Ferne schaute, und ich mochte wohl ein wenig blass geworden sein. Er fuhr mit der Hand über meinen Kopf und sagte, „Süh Jüngsken, nu wäiß du auk, worüm de Poal un de Nagel in den Baum sitt’t. Son Spok hät‘n toar Liäwen. Legg men muorn dat Aohr an den Stamm, dann kannste wat krabbeln hören.“ Ich habe den Rat nicht befolgt, sondern hielt es für zweckmäßiger, um den alten Walnussbaum immer einen großen Bogen zu machen.
 
Der Großvater holte abermals eine glühende Kohle in die Pfeife, paffte mächtig und erzählte die absonderliche Geschichte „van den Hahn up´n Kohtrogg“.
 
„Wenn ick‘t nich sölwest beliäwet här, daih ick et gar nich vötellen“, fing er an. Die Sache aber war passiert, kurz nachdem der Spuk in den Walnussbaum „gebannt“ worden war. Da kam eines Abends „de graute Därn“ (Großmagd) aus dem Kuhstall vom Melken her in die Küche und sagte: „Blessken hät kien´n Druopen Miälk giewen. Off dat Dier sik wull vö den Hahn vösett‘t (erschrocken) hät, de vör em up‘n Trog satt?“ Gleich darauf aber kam die Kleinmagd in die Küche und berichtete, dass „Kräunken“ keine Milch gegeben habe. Am anderen Morgen fraßen die Tiere gut und gaben auch wieder das übliche Quantum Milch.      
 
Am Abend war ein anderes Tier güst, und wieder saß der Hahn auf dem Trog. Er wechselte seinen Platz und setzte sich vor einer anderen Kuh auf den Trogrand. Augenblicklich hörten die „Striepels“ auf zu laufen. „Düker nomaol“, rief der Knecht, „wat döht de Hahn dao?“, und wollte ihn greifen und auf den „Wiem“ setzen. Aber blitzschnell war das Tier zum Hühnerloch hinaus nach draußen. Am dritten Abend wiederholte sich die Geschichte abermals. Nun aber setzte alsbald eine Jagd auf den Hahn ein, der auf der Trogkante hockte. „Et was en ganz roddrig un schoddrig Dier un wuss nich, off he kreien odder kakeln soll“, sagte mein Großvater und schilderte die wilde Jagd, die vom „Vüörschöpsel“ bis zur „Schrankdüör“ und von der Kuhstall- bis zur Pferdestallseite auf der Tenne hin und her ging. Es gelang aber dem Spukwesen, durch den Entenstall noch den Ausweg zu finden.
Freilich hatte ihn ein Wurf mit einem Besenstiel ein Stück seines zackigen Hahnenkamms gekostet, und er ließ sich nicht wieder blicken. – Eine alte Frau aber, von der nichts Gutes zu berichten war, und die der Urgroßvater im Herbste beim Flachsdiebstahl ertappt hatte, sei nach dem Vorfall mehrere Wochen lang mit verbundenem Kopf gegangen. Auch sei festgestellt worden, dass sie an den fraglichen Abenden nicht zu Hause war.
 
Das Herdfeuer war völlig niedergebrannt. Alle hatten über der Geschichte alles andere vergessen. Finsternis geisterte durch die Küche, die nur der Mond an einer Ecke etwas aufhellte. Die Mägde klapperten mit den Zähnen. Fror es sie? Fürchteten sie sich? Jedenfalls kostete es einige Überredungskunst, bis sie sich in die Kammer begaben. Ich bin den Weg nach Hause mehr geflogen als gegangen und wagte nicht, den Blick zur Seite nach der Wallhecke zu richten mit den alten Knorren darin, die Leben bekamen, wenn ich sie angeschaut hätte. Aber der Großvater, so denke ich heute, ist – still lächelnd in seine Bauernkammer geschlurft.
 


 
Auch auf Erwachsene üben ungewöhnliche Naturerscheinungen – besonders im Zusammenspiel mit einem festen Glauben an Omen – einen starken Reiz aus. Wenn das Vorhergesehene dann wirklich einige Zeit später eintrifft, mag das ursprüngliche Geschehen in der Erinnerung noch ein wenig mehr an Glanz und Dramatik gewinnen – für J. Schlotmann eine ideale Grundlage für die folgende Geschichte, die 1939 in der „Glocke“ veröffentlicht wurde:
 
 
Spökenkiekers
 
 
Am 10. Oktober 1927 besuchte ich den alten Friedrich Suthoff in Westkirchen, „in´n Waolle“. Er zählte damals 83 Jahre, ein treuer Sohn seiner Heimatgemeinde, der er mit Herz und Hand verschworen war. Er hatte noch einen ganz klaren Kopf, wie man zu sagen pflegt, und wusste viel aus längst vergangenen Zeiten zu erzählen, Selbsterlebtes, über das er mit jugendlichem Feuer zu berichten wusste. Er selber aber ein Prachtkerl mit seinem schneeweißen wallenden Bart, „son echten rechten Westkiärsken, fromm un frie, de´t seggt äs he´t meint“. „Nu kiek äs an, Jösken Schlautms sien Suohn, de Magister. Nee, dat frait mi doch“. Und im nächsten Augenblick waren wir schon mitten im Plaudern.
 
„Sall ick nu hauchdütsk odder plattdütsk küern? Ick kann´t von alle Kanten“. „Platt, Suthoff, dat hör ick am laiwsten“.
 
Und plattdeutsch erzählte er mir nun neben manchem anderen auch, wie einige Spökenkieker das Dorf Westkirchen haben brennen sehen, und reichlich anderthalb Jahrzehnte nach diesem Vorgesicht ist das Dorf dann am 19. Juli 1868 wirklich niedergebrannt. Suthoff aber erzählte Folgendes:
 
 
„Häs du den Giärd Schaoms noa kannt? Näi? Je, dat sals auk wull nich, de is je nu auk all´n mannig Jöhrken daut. Owwer du wäis doch dat Hus, so twäi Kilomäiter von´n Duorp odder drai, in´n Aiksternwaolle, an de Biäke, wäiste. He was no nich lange wier to Hus, he was met noa Baden west 49, jüst äs dien Bessvadder. Nu was dat den Saoterdag vör Pinksten, un et genk up´n Aohmd to, un Giärd stonn vör´n House un käik so in de Giegend. Roggenlands Jungens, de baiden öltsten, Hinnik un Hiärm, kaimen met de Piär dohiär, se wulln no´n biettken Antwaihen affhäggen. So an Aohmd vör´n haugen Fierdag wät se doch rächt niks anners beschicket. Un äs se so mitten int Küern wören, raip Giärd Schaoms (Gerhard Scharmann) up äinmol: ‚Mein Gott, wat is dat! Nu kiekt es bloß, dat is je´n Brand! Dat ganze Duorp in Qualm!‘ Un Roggenlands Jungens sögen‘t auk. Giärd Schaoms stäig up den Possunkelbiärnbaum (Bauernbirnbaum mit Frühbirnen) un raip: ‚Mein Gott noch tou, de Flammen springet an´n Kiärktorn hauge, dat Füer slött all up de Kiärke, un links van de Kiärke staiht alls in Flammen!‘ Up äinmoal was alles vöswunnen, dat Duorp lag in daipen Friäden, un von´n Torn klüngen de Pinkstklocken düor den Aohmd.
De drai stönnen noa un wüssen nich, wat se to de Sake seggen solln, do trock Finken Schaiper vörbi, de met sine Schaope ut de Huorstwisken kamm, un segt: ‚Häww ji dat Füer saihen? Dat hät wat to bedühen, dat ganze Dourp stonn in Brand!‘ (Finke wohnte damals noch nicht auf dem Domhof, sondern an dem Kreuzungspark der alten Landstraße Warendorf – Hohes Kreuz – Oelde mit dem Sandweg Domhof – Bockmann – Beelen).
 
De aole Finken Schaiper was nu owwer doaför bekannt, dat he Gesichter har, un wiel dat de Lü em nich glöffen, wat he saihen häbben wull, kräig he den Namen ‚Lüggiard‘, de dann noahär up dat Hus hangen bläif. Owwer de drei wüssen nu up äinmoal, dat de Schaiper kien Windbül was. Et duerde nich lange, dao was iähre Spökenkiekerie in de ganze Gemeinde Westkiärken bekannt, un se wörn genoug foppet un laipen lange Tied met den Spitznam harüm: ‚de Prophäiten ut´n Aiksternwaolle‘. Se laiten sik owwer nich daovon affbrengen, dat se dat Duorp in Flammen saihen härn un sächen: ‚Woachtet män, dat kann no fröh genoug kuomen.‘ Un de Pastoer Mentrup hor auk van de Sake un he was auk son bietken „hellsichtig“, un de hät sik de Geschichte von alle väier ganz genau vörtellen loaten un hät ganz bedächtig met´n Koppe schüddelt un seggt: ‚Lüe, üower süke Saken sall man nich lachen!‘
 
Giärd Schaorms hät mi de Sake noa männigmoal vötellt un auk nohiär noa, äs Westkiärken affbrannt was, un doa sägg he jedesmoal doabie: ‚Jau, Fritz, genauso, äs´t noahiär west is, häwwe ik‘t säihen!‘“
 
 
So erzählte mir der 83jährige Friedrich Suthoff aus dem Wolle. Es gibt noch heute mehrere alte Leute in Westkirchen, die auch aus dem eigenen Erleben sich klar erinnern, dass längst vor dem Brand Westkirchens dieses Vorgesicht unter den Bewohnern der Gemeinde bekannt war, aber dass es freilich von vielen nicht ernst genommen wurde.
 
 
Es ist nicht verwunderlich, dass auch diese phantastische Geschichte bei ihrer Veröffentlichung mit folgendem Kommentar versehen wurde:
 

Anmerkung der Redaktion: Die Erfahrensten sagten jedenfalls, sowohl die untergehende Sonne als auch der Mond könnten Feuersbrünste derart vortäuschen, dass vielerorts schon die Feuerwehr ausgerückt sei, um den „mit eigenen Augen und mit allen Einzelheiten gesehenen Brand“ zu bekämpfen. Obwohl die Feuerwehr „ins helle Feuer gesehen“ hatte, musste sie dann doch feststellen, dass es sich um eine optische Täuschung handelte. Wir sind selbst samt Chauffeur schon in einer Nacht das Opfer einer solchen Täuschung geworden und haben am folgenden Morgen allerhand Geld unnütz ausgegeben für telefonische Anfragen.
 
 
Die Rückerinnerung an Joseph Schlotmann soll schließen mit einem Gedicht, das er seinem Heimatort gewidmet hat und in dem die anfangs erwähnte starke Verbundenheit mit allem, was er dort erfahren hat, zum Ausdruck kommt:

 
 
Westkiärken
 
Klein is dat Düörpken, de Grund is taor,
Klein sind de Tuffeln, dat Geld is raor,
Klein sind de Hüser, de Kluten swaor,
Viell Möüh un Arbeit gifft Jaohr för Jaohr.
Klein is de Kiärkhoff, de Kiärmis is klein,
Klein is de Haihaup, un dünn is de Gein (Schnittgut).
Klein is de Biäke un klein de Gemein,
Klein sind de Spiekers un Backüöms to seihn.
Owwer graut sind de Mensken an Wuss un an Mout,
Un stark äs de Äikbaim; gesund is iähr Blout.
Wo griepet de Föüste, wo stramm trätt iähr Fout!
Wo stur is de Nacken! Wo fast sitt de Hout!
Un greun sind de Hiegens, un greun is de Waold!
Un jung bliff dat Hiätt, un de Kopp, de bliff kaolt!
Un graut sind de Schinken, un seut is dat Smaolt –
Un raut sind de Backen bi junk un bi aolt.
So scheun gifft kiene Bloumen äs up uosen Grund,
So wacker kiene Wichter up‘t ganze Ärdenrund.
So blao is bloß de Hiemmel, äs iähre Augen sind,
So trü is bloß de Härgott, äs iähre Hiätten minnt.
Westkiärken, du sass liäwen met Busk un Bloum un Lü!
In Liäwen un in Stiärwen bliff di mien Siälle trü!

 

Dorfarchiv Westkirchen e.V.
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